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Deep Time: (Durch) geologische Zeit erzählen und erklären

Liola Mattheis und Liza Wyludda

06.12.2024

Plakat Deep Time

Plakat Deep Time

Wie tief müssen Begründungen aktueller planetarer Bedingungen ansetzen? Wenn es bei der Aitiologie um die rekursive (De-)Stabilisierung gegenwärtiger und zukünftiger Verhältnisse durch Bezug auf ihre Anfänge geht, so haben Aitiologien der Gegenwart sich zur Denkfigur der Tiefenzeit zu verhalten. Die im 19. Jahrhundert stattfindende geologisch-literarische Explosion desjenigen Zeithorizonts, welcher als konstitutiv für Erdrealitäten betrachtet wird, kann nicht spurlos an heutigen kulturellen Verortungen vorbeigehen; dass sie es auch nicht tut, bezeugen die Erzähl- und Erklärverfahren im Diskurs um das Anthropozän seit den 2000er- Jahren allemal. Demnach ist es nur konsequent, dass die frisch begründete DFG- Forschungsgruppe zu Aitiologien in ihrem ersten öffentlichen Workshop Begründung tiefenzeitlich perspektiviert und danach fragt, wie tief Ursprünge gelagert sind und werden.

Das Konzept der „Deep Time“ ist durch rezente Debatten um das Anthropozän weit über geowissenschaftliche Fachgrenzen hinaus auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften zu einem prominenten Begriff avanciert. Unter Tiefenzeit versteht man üblicherweise ebenjenen gewaltigen Zeitraum, in dem sich die gesamte Erdgeschichte ereignet; sie impliziert damit auch einen Zeitraum, der sich – anders als die Historie – der menschlichen Vorstellungskraft entzieht.[1] Der im 19. Jahrhundert mit der „Entdeckung der Tiefenzeit“ einhergehende Blick in den „Abgrund der Zeit“ bedeutete somit eine enorme Erschütterung des Zeitverständnisses der historischen Gegenwart. Er führte zur Dezentrierung des Menschen und der Abkehr von einer durch biblische Zeithorizonte von wenigen tausend Jahren geprägten Zeitvorstellung – hin zu einer, die sich mit mehreren Jahrmillionen konfrontiert sah. Heute gehen wir von circa 4,5 Milliarden Jahren seit der Entstehung des Sonnensystems aus.

Während die Tiefenzeit den Naturwissenschaften – wie zum Beispiel der Geologie und der Paläontologie – weitestgehend als explanans dient, also als Konzept, das gegenwärtig zu beobachtende Formationen durch die – stratigraphisch untersuchbare – immense Dauer ihrer Sedimentation erklärt, stellt sich die raum-zeitliche Begründungsfigur in den Geisteswissenschaften eher als explanandum, als erklärungsbedürftiges Konzept, dar. Damit kann und muss es auf seine epistemischen, philosophischen und ideologischen Gesichtspunkte wie auch auf seine (mediale) Vermittel- und Darstellbarkeit hin befragt werden.

Aitiologien gehen von Phänomenen und Bedürfnissen der Gegenwart aus und erklären diese rückwirkend durch Erzählungen von Anfängen; sie können als Legitimationsinstrument dienen und als wissenschaftliche Argumentationsfigur eingesetzt werden; ihre Untersuchung lenkt den Blick auf die fragliche Passgenauigkeit von Anfang, Fortgang und Ende sowie auf Aspekte wie Kohärenz, Kontinuität und Kausalität. Mit dieser Perspektive also wendete sich der zweitägige interdisziplinäre Workshop dem Konzept der Tiefenzeit zu und fragte insbesondere nach der spezifischen Erklärungsleistung, die von dem Konzept der Tiefenzeit sowie den erzählerischen Rückgriffen auf dieses ausgeht. Welche spezifische Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart wird durch Deep Time hergestellt? Was und wie wird mit diesem Konzept erzählt und erklärt? Was bedeutet die Überbrückung extrem großer Zeiträume für die Rolle des Menschen in Bezug zur Natur?

In dem am stärksten konzeptuell orientierten Beitrag des Workshops klärte Georg Toepfer (ZfL Berlin) über den Nexus von Erklären und Erzählen in der Denkfigur der Aitiologie auf und demonstrierte anhand einiger Beispiele aus der Biologie- und Geologiegeschichte die spezifische temporal-kausale Konfiguration begründender (natur-)wissenschaftlicher Narrationen zu tiefenzeitlichen Zusammenhängen. Mit geowissenschaftlicher Expertise informierte Gottfried Hofbauer (Erlangen) daran anschließend über die Geschichte der Tiefenzeit von ihrer „Entdeckung“ bis hinein in gegenwärtige (natur-)wissenschaftliche Diskurse, die das geologische Konzept als Begründungsfigur für ihre Argumentationen nutzen.

Ein wichtiger Strang des Workshops widmete sich dem „Gedächtnis der Erde“. Christoph Rosol (MPIWG Berlin) gab in seinem Vortrag Einblicke in paläoklimatologische Methoden. Dabei verdeutlichte er die Beziehung von (tiefenzeitlicher) Vergangenheit und Zukunft durch Erklärungen, die sich auf Daten aus Klimaarchiven stützen – sogenannten Klimaproxies – und zur Modellierung von (möglichen) Zukünften beitragen. Inspiriert von Jan Röhnerts Text Vom Gehen im Karst (2021) lotete Simon Probst (Universität Vechta) aus kulturwissenschaftlicher Perspektive das Potenzial der Gegenüberstellung von Tiefenzeit und kultureller Gedächtnistheorie aus. Hierbei demonstrierte er, dass der Mensch im Anthropozän nicht mehr nur eine historische Vergangenheit symbolisch und ideell bewohnt, sondern sich zunehmend in erdgeschichtliche Kontexte und Zeitspannen einschreibt und die geologische Tiefenzeit dadurch das Konzept des kulturellen Gedächtnisses herausfordert.

Dass Erzählungen tiefer Zeit eine eindrucksvolle und komplexe ideengeschichtliche Nähe zu Figuren der Zirkularität aufweisen, verdeutlichten Beiträge mit historisch weit auseinanderliegenden Bezügen. So verglich beispielsweise Anna-Maria Gasser (FU Berlin) die Urstoffpostulate von Thales, Anaximander, Heraklit und Empedokles miteinander und arbeitete mit Ansätzen des Ecocriticism markante Verbindungen von Aitiologie und Tiefenzeitlichkeit sowie die zuweilen zyklischen Logiken der kosmologischen Entwürfe heraus. Das Motiv einer ewigen Wiederkehr zeigte sich auch in der Wissenschaftsgeschichte und Kosmologie Friedrich Engels, die Liola Mattheis (ZfL Berlin) in den Fokus rückte. In ihrem Vortrag lotete sie mittels eines Close Readings der „Naturdialektik“ (1873–1882) Engels‘ Umgang mit der epistemischen Herausforderung, welche die Tiefenzeit für marxistische Theorien darstellt, ebenso wie ihre politische Signifikanz in aktuellen Debatten zum Kapitalozän aus.

Schließlich leistete der Workshop auch eine Beschäftigung mit den Herausforderungen, die mit der Repräsentation von Prähistorie und tiefer Zeitlichkeit in unterschiedlichen Medien einhergehen. Mit einer Fülle an Bildmaterial ging Patrick Stoffel (Leuphana Universität Lüneburg) in seinem Vortrag Urzeitimaginationen aus dem späten 19. Jahrhundert nach und informierte darüber, wie die Prähistorie 1889 durch das Wissenschaftliche Theater in der Urania Berlin inszeniert und mittels avancierten Technikeinsatzes als immersives Erlebnis sowie Vergangenheitsvergegenwärtigung erfahren werden konnte. In ihrem gemeinsamen Vortrag zeigten Irmela Marei Krüger-Fürhoff (FU Berlin) und Liza Wyludda (FU Berlin) anhand von Auszügen zweier weltgeschichtlicher Großerzählungen – Jens Harders Comic Alpha… directions (2010) und Raoul Schrotts Epos Erste Erde (2016) –, wie diese mit unterschiedlichen Strategien Menschheits- und Erdgeschichte amalgamieren. Damit arbeiteten sie den explikativen Mehrwert des narrativen und argumentativen Rückgriffs auf eine tiefe Zeitlichkeit heraus.

Wenn aitiologische Erklärungsleistungen grundsätzlich mit einem Sprung in die Vergangenheit operieren, wie Toepfer in seinem konzeptuellen Beitrag nahelegte, wirft dies mit Blick auf das Konzept der Tiefenzeit und seine irritierende Abgründigkeit die Frage auf, wie ein solcher Sprung angesichts dieser großen Zeiträume genau gedacht werden kann. Begründen erzählerische Rückgriffe auf die erdgeschichtliche Vergangenheit gegenwärtige Umstände anders als es zum Beispiel Rückgriffe auf historische Zeitdimensionen tun? Stellen Erzählungen von tiefenzeitlichen Zusammenhängen besondere temporale Konfigurationen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und/oder spezifische Ursache-Wirkung-Beziehungen her und erklären sie somit etwas (anders)? Was bedeutet dies für eine möglicherweise ebenso „tiefe“ Zukunft?

Vor dem Hintergrund dieser Fragen arbeiteten sich die verschiedenen Vorträge am Verhältnis von Erklären, Erzählen und auch Zählen ab, das angesichts der Immensität der Tiefenzeit verkompliziert wird. Dass dabei auch gängige Ursprungserzählungen zur „Entdeckung der Tiefenzeit“ infrage gestellt werden konnten – und dass ihre Datierung verhandelbar bleibt –, zeigten die breiten historischen und disziplinären Perspektiven wiederholt auf. Das temporal-kausale Schleifenmodell der Aitiologie stellte sich dabei als äußerst produktive und gewinnbringende Denkfigur für die Diskussionen heraus und rückte das Moment der „Begründung“ wiederholt in den Fokus.

Die literarische Lesung von Jan Röhnert (Braunschweig) und Linn Penelope Rieger (Leipzig) ermöglichte auch einem breiteren Publikum das „Abtauchen“ in eine tiefe Zeit und gab Einblicke in die Geographien der ostdeutschen Heimatorte beider Autor:innen. Röhnert und Rieger lasen unter anderem aus der 2021 bei Matthes & Seitz erschienenen „Lokalkunde“ Vom Gehen im Karst (Röhnert) und der 2022 im Trottoir Noir Verlag publizierten autofiktional gebrochenen „literarischen Kartografie“ Abraum, schilfern (Rieger). Im Gespräch führten sie aus, dass sie je eigene Schreibweisen entwickeln, um über Erdgeschichte nachzudenken und sie darstellbar zu machen. Beide Nature-Writing-Texte zeichnen sich durch ihre Sensibilität und Neugier für die von ihnen beschriebenen Landschaften aus und arbeiten mit narrativen (Zeit-)Schichtungen, die eine Verwobenheit des Menschen und seiner (Kultur-)Geschichte mit der Landschaft sowie der Erdgeschichte evozieren. Dies wurde im Anschluss an die Lesung im Gespräch mit den Literaturwissenschaftlerinnen Krüger-Fürhoff und Wyludda weitergehend diskutiert.

Erstveröffentlichung dieses Berichts: Liola Mattheis / Liza Wyludda, Tagungsbericht: Deep Time: (Durch) geologische Zeit erzählen und erklären, in: H-Soz-Kult, 30.11.2024, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-151507.

 


[1] Eva Horn, Klimatologie um 1800. Zur Genealogie des Anthropozäns, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 10 (2016), 1, S. 87–102; Stephen Jay Gould, Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil und Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde, Berlin 1990; Noah Heringman, Deep Time. A Literary History, Princeton 2023; Johannes Pause / Tanja Prokić (Hrsg.), Zeiten der Natur. Konzeptionen der Tiefenzeit in der literarischen Moderne, Berlin 2023.