Springe direkt zu Inhalt

Daphne: aitiologische Konstellationen zwischen Gewalt und Naturmythologie

Ramunė Markevičiūtė und Susanne Gödde

29.08.2024

Piero und Antonio del Pollaiuolo, Apollo and Daphne (ca. 1470–1480), The National Gallery, CC0

Piero und Antonio del Pollaiuolo, Apollo and Daphne (ca. 1470–1480), The National Gallery, CC0

Dass die Forschungsgruppe ausgerechnet den aitiologischen Mythos von Daphne und Apollon zum ikonographischen Leitmotiv gewählt hat, erscheint als durchaus riskant. Wie kaum ein anderer Mythos steht die Erzählung von Daphnes Verwandlung in einen Lorbeerbaum im Zentrum der jüngeren feministisch geprägten literaturkritischen Debatten um ästhetisierte Darstellungen von sexueller Gewalt. Im einschlägigen Beitrag zu Ovids Vergewaltigungen hat Amy Richlin sehr einleuchtend vor Augen geführt, wie die Poesie der Metamorphosen von der Darstellung vorwiegend gegen Frauen verübter sexueller Gewalt lebt und aus der Diskrepanz zwischen raffiniertem Stil und bedrohlicher Handlung selbst noch einen gewissen Humor bezieht.[1] Mehr noch, die Vergewaltigung durch einen Mann fungiere, so die Kritik, in Ovids Dichtung als Gegenstand der Komik und bediene sich einer Darstellungsweise, die Frauen Emotionen häufig abspreche, sie verharmlose oder verkehre. Meistens blieben die Frauen jedoch einfach nur stumm und passiv, verdammt zu ewiger linguistischer Objektivierung. Die Daphne-Szene gleich im ersten Buch der Metamorphosen etabliert den Prototyp für alle weiteren vergleichbaren Episoden. Sie lädt die Leser*innen zum voyeuristischen Akt ein, bei dem die Angst und die Flucht des Opfers vor ihrem Angreifer zu einem ästhetischen Schauspiel werden: sie (Angst und Flucht) machen die Frau, so konstatiert Ovid explizit (Met. 1, 530), nur noch schöner.

Die feministische Kritik hat die jahrhundertelange Perpetuierung dieses Motivs durch die Rezeption der Metamorphosen von fast ausnahmslos männlichen Künstlern angefochten. Gerade die wohl bekannteste und meistgefeierte Darstellung dieser Transformation, Gian Lorenzo Berninis Daphne-Skulptur, gebe, so heißt es dort, das erotisierte, ovidische Grauen besonders ausdrucksstark wieder und versetze die Betrachtenden genau wie die Leser*innen der Metamorphosen in die, gelinde gesagt, unangenehme Lage, das Schöne im Abscheulichen bewundern zu müssen.[2]

Tatsächlich hat Daphne bildende Künstler*innen wie auch Dichter*innen, Philosoph*innen und Komponist*innen über Jahrhunderte zu den unterschiedlichsten Interpretationen, Re-Lektüren und Re-Inszenierungen ihrer Aitiologie inspiriert. Neben physikalischen Deutungen bei den Mythographen der Antike, die das Gedeihen des Lorbeer am Peneios unter den wärmenden Strahlen des Sonnengottes auf das Verhältnis zwischen Apollon und Daphne zurückführten, wird Daphne in der christlichen Allegorese des Mittelalters u.a. gelesen als Kreuz Christi, als der vom Weisen zu erstrebende Baum der Weisheit, als Jungfrau Maria, mit der sich Christus-Apollo fleischlich vereinigen wollte, oder umgekehrt als anima christiana, welcher der Teufel in Gestalt Apollos nachstellt. Eine der berühmtesten Aneignungen des Mythos bietet Petrarca, der im Canzoniere den Gleichklang von lauro und Laura auf mehreren Ebenen mit Bedeutung füllt – bald erscheint dort der Baum als geliebte Frau, bald als erstrebte (Dichter-)Lorbeerkrone, – bis das Spiel in Canzone 23 durch die Transformation des Dichters selbst in einen Lorbeer auf die Spitze getrieben wird.[3]

In unterschiedlichen Deutungsansätzen stehen stets andere Figuren im Vordergrund: der unglückliche, verschmähte oder lüsterne Apoll, der trauernde Vater der Daphne, Peneus, der siegreiche Amor, die erschrockene oder aber auch die triumphierende Daphne. Giambattista Tiepolos Gemälde Apollo und Daphne, mit dessen Bildausschnitt sich die Forschungsgruppe auf ihrer Website präsentiert, folgt der Tradition von Antonio del Pollaiuolos Bildmotiv, das die Aitiologie, d. h. Daphne und ihre Verwandlung, in den Vordergrund stellt.[4] In dem von Lorenzo de’ Medici in Auftrag gegebenem Gemälde steht der Lorbeer einerseits für den Dichterkranz, andererseits ist er das Attribut des triumphierenden Staatsmannes. So versinnbildlichen die nach einem Y geformten Äste schließlich auch den Scheideweg, an dem Lorenzo gezwungen ist, zwischen otium und negotium, seiner Passion für die Dichtung und seiner Pflicht als Amtsträger, zu wählen.[5] Die Erzählung von Daphnes Transformation verkörpert also den Moment eines kritischen Lebensabschnitts, in dem Entscheidungen die weitere persönliche Entwicklung des männlichen Verfolgers bestimmen, – und damit die größtmögliche Abstraktion von Daphne und ihrer Weiblichkeit.

Giovanni Battista Tiepolo, Apollo und Daphne (1743–1744), Musée du Louvre, CC0

Giovanni Battista Tiepolo, Apollo und Daphne (1743–1744), Musée du Louvre, CC0

 Giovanni Battista Tiepolo nähert sich den Mythen Ovids in der Regel mit Ironie und Augenzwinkern. Davon zeugt auch das zwischen 1743 und 1745 entstandene Gemälde Apoll und Daphne, das Daphnes Flucht zwar ästhetisiert – was sich an der tänzerischen Körperdrehung, dem schmuckbesetzten Bauchband und den sich um ihren Körper herum bauschenden Gewändern zeigt –, jedoch ohne sie zu einem hilflosen Objekt zu degradieren. Die aufwärts strebende Bewegung ihres Körpers, die gerade die rechte Hand mit den aus ihr herauswachsenden Lorbeer-Blättern andeutet, spricht eher von Erhebung als von Erniedrigung.[6] Zudem wird die Überlegenheit der Sich-Entziehenden dadurch angezeigt, dass es den Anschein hat, als versetze sie dem Gott einen Stoß mit ihrem rechten Fuß.[7] Der am Boden hockende Peneus, Daphnes Vater, hat die Verwandlung auf ihren Wunsch bewirkt, wie schon Ovid erzählte. Weit schwieriger zu deuten ist die Rolle des Liebesgottes Amor: Der entsendet in den Metamorphosen auf Apollon den alles in Bewegung setzenden Liebespfeil, doch hier scheint es gleichermaßen sein Anliegen zu sein, die Flucht und die fast an eine Apotheose gemahnende Erhebung der Daphne zu befördern. So jedenfalls könnte man seine Position unterhalb ihres Körpers, diesen stützend und leicht nach oben stemmend, deuten. Tiepolo verzichtet auf die „lastende Starre“ (torpor gravis, Met. 5, 548), die sich bei Ovid um die Verfolgte legt, er zeigt nicht den Moment, in dem Daphne ihr Gesicht verliert, sondern ihre triumphale Rettung. Aitiologisch gelesen ergibt sich eine komplexe, ja dialektische Gemengelage: Amors Pfeil verursacht Apolls verfolgende Liebe, doch zugleich befördert der Liebesgott die Flucht der Daphne – nur indem Daphne sich entzieht, kann der Lorbeer zum Symbol des Gottes werden, als Zeichen von Begehren, Ruhm und Poesie.

In Anbetracht der reichen Tradition der Daphne-Exegese, muss freilich nicht hinter jeder Daphne-Motivik zwangsläufig eine Ovid-Lektüre angenommen werden. Die Aitiologie, die in ihrer einfachsten Gestalt auf die Frage antwortet, warum der Lorbeer in einer Beziehung zum Gott Apollon steht, lädt wiederum selbst fortwährend zu neuen Lesarten ein. Mit seiner 1938 uraufgeführten Oper Daphne, für die Joseph Gregor das Libretto lieferte, kehrte Richard Strauss zu den Ideen der deutschen Romantik zurück, die ihn besonders zu Beginn seiner Karriere beschäftigt hatten. Über die Suche nach dem Göttlichen im Menschen hinaus ging es ihm nun auch um die Möglichkeit der Reinigung und Erneuerung, die selbstbestätigende Transformation durch das Wirken des göttlichen Spiritus der Natur.[8] Im Zentrum dieses Verwandlungsprozesses steht Daphne, die sich in ihrer heimatlichen Fischerdorf-Bukolik wie eine Fremde fühlt: ihre Welt ist die vegetative Natur. Als Tochter der Gaea repräsentiert sie eine erdverbundene Natur, frei von Verstellung und gesellschaftlichem decorum. Zwei Männer, der Dorfjunge Leukippos[9] und der Gott Apoll, streben nach ihrer Liebe und versuchen beide, sie durch Täuschung zu gewinnen: Apollo verhüllt gegenüber Daphne seine wahre Gestalt und gibt sich als ihr Seelenverwandter und Bruder aus, Leukippos hingegen versucht, sich ihr als Frau verkleidet zu nähern. Beider „weichliche Maske[n]“ führen jedoch nicht zum gewünschten Erfolg. Leukippos’ Geschlechtswechsel wird entlarvt, doch die „männliche[.] Kraft“ der Werbung treibt Daphne erst recht in die Flucht.[10] Aus Eifersucht schlägt der Gott den Menschen Leukippos schließlich tot, und Daphne, sowohl der göttlichen als auch der Menschenwelt endgültig entfremdet, sucht nach Läuterung, indem sie endlich zu dem wird, was schon immer ihrem Wesen entsprach:

Ich komme – ich komme –
Grünende Brüder…
Süß durchströmt mich
Der Erde Saft!
Dir entgegen –

in Blättern und Zweigen –

Keuschestes Licht!
[11]

Daphne entzieht sich also als Mensch der gewaltsamen Vereinnahmung durch den Gott und wird zu etwas, das diesem ebenbürtig bzw. koätern ist, zur Natur. Doch bleibt sie auch in dieser Existenzform nicht frei, sondern Apoll fordert von ihr einen priesterlichen Dienst; sie selbst bekennt sich gegenüber Leukippos schuldig und verbindet ihr Eingehen in die Natur mit einem Opfer an ihn. Der Lorbeer auf dem Haupt Apolls wird zum Symbol seines Scheiterns und seiner Verfehlung: auch der Gott ist transformiert. Die Beziehung zwischen ihm und Daphne geht auf einer anderen von Dauer und Erneuerung bestimmten Ebene weiter, denn Apollo ist die Sonne, die dem Baum ihre Strahlen spendet, während der Baum sie mit seinen Blättern ehrt. Der einzige, der bei diesem Spiel alles verliert, ist der Mensch, der seiner Fleischlichkeit verhaftet bleibt: Leukippos. Sein Begehren und seine Ambitionen führen ins Leere, seine endgültige Transformation bleibt aus, ihm bleibt nur der Tod.

Sowohl das Gemälde von Tiepolo als auch das Libretto der Strauß-Oper zeigen, dass die brutale Vergewaltigung nicht das aition für den apollinischen Lorbeer sein muss, ja nicht einmal sein kann. Bei dem Maler ist es das doppelte Spiel von Verfolgung und Entzug, von Anziehung und Abstoßung, im wörtlichsten Sinne in Gestalt von Daphnes Fußtritt, das – vermittelt durch die an eine Himmelfahrt gemahnende Verwandlung – den Lorbeer auf dem Haupt des Gottes erklärt. In der Oper wird Daphne noch deutlicher dem Reich zugeführt, dem sie sich immer schon zugehörig fühlte: der Natur. Apolls von Amor injizierte Liebe zur Nymphe und die Abneigung der Daphne gegenüber seinem Begehren – diese Konstellation, und nicht die Vergewaltigung, ‚erklärt‘ oder begründet Lorbeerbaum und Lorbeer-Schmuck. Die eingangs zitierte feministische Kritik an Ovid und seiner Objektifizierung der fliehenden Frau versteht die drohende Gewalt als faktisches Fundament einer patriarchalen Dichter-Herrschaft. Auch diese aitiologische Dimension ist in der Geschichte enthalten. Der Daphne-Mythos ist ein Paradebeispiel für uneindeutige Kausalitäten, aber auch für ambivalente Geschlechterverhältnisse und es gilt, in dieser Hinsicht narratives und mythologisches Begründen genauer zu erforschen. Diesen und ähnlichen Fragen zu Wirkung, Strukturen und Problematik aitiologischer Erzählungen möchte sich die FOR in den nächsten Jahren stellen. Am Beispiel der Jahrtausende umspannenden Geschichte der Daphne-Aitiologisierung wird deutlich, dass Aitiologien als Erzählungen des Anfangs ihre Faszination weit über den Bereich des Mythos in theologischen, politischen, literaturkritischen und naturphilosophischen Zusammenhängen entfalten können.[12]


[1] Amy Richlin, „Reading Ovid’s Rapes“, in: dies. (Hg.): Pornography and Representation in Greece and Rome, Oxford 1992, S. 158–179.

[2] Marguerite Johnson, Tanika Koosman, „Friday essay: rethinking the myth of Daphne, a woman who chooses eternal silence over sexual assault“, Quelle: https://theconversation.com/friday-essay-rethinking-the-myth-of-daphne-a-woman-who-chooses-eternal-silence-over-sexual-assault-162521 (05.02.2024).

[3] Wolfgang Stechow, Apollo und Daphne, Leipzig, Berlin 1932, S. 1–9.

[4] Ebd. S. 32.

[5] Luba Freedman, „Apollo and Daphne by Antonio del Pollaiuolo and the poetry of Lorenzo de’ Medici“, in: Memoirs of the American Academy in Rome 56/57 (2011/2012), S. 213–242.

[6] Pace Johnson und Koosman (Anm. 2), S. 4, die gerade hierin „the silly and passive rendition of sexual assault” sehen wollen.

[7] Vgl. Annette Hojer, „Apollo und Daphne“, in: dies. et al. (Hg.): Tiepolo. Der beste Maler Venedigs, Ausstellungskatalog, Stuttgart 2019, S. 98.

[8] Bryan Gilliam, „Ariadne, Daphne and the Problem of Verwandlung“, in: Cambridge Opera Journal 15/1 (2003), S. 67–81.

[9] Die Erweiterung des Figurenarsenals durch Leukippos findet sich bereits in der Antike, in den Erôtika pathêmata des Parthenios (Nr. 15), der diese von Phylarchos (3. Jh. v. Chr.) übernommen haben dürfte. Dort gehört Daphne zur Entourage der Artemis; ihre Begleiterinnen töten Leukippos, als sein Betrug beim Baden in einer Quelle offenbar wird. Vgl. zu den verschiedenen Versionen Katharina Münchberg: s.v. „Daphne“, in: Maria Moog-Grünewald (Hg.): Mythenrezeption (Der Neue Pauly, Supplemente, Bd. 5), Stuttgart und Weimar 2008, S. 203–211, hier: S. 203.

[10] Zitate aus dem Libretto zu Strauss’ Daphne: https://opera-guide.ch/operas/daphne/libretto/de. Inwieweit die Hypostasierung einer reinen Natur und die Aggression gegen die Androgynität sich der zeitgenössischen Geschlechtsideologie, der Strauss und sein Librettist nahegestanden haben mögen, verdankt, wäre eine eigene Untersuchung wert. In gewisser Weise plädiert diese Version der Aitiologie sowohl für rigide Geschlechterrollen als auch für die Negation jeglicher Sexualität und stattdessen für die angebliche Reinheit der Geschwisterliebe.

[11] Libretto zu Strauss’ Daphne: https://opera-guide.ch/operas/daphne/libretto/de.

[12] Unser Dank geht an Liola Mattheis, die wertvolle Anregungen zu dem Text beigesteuert hat.